Simon, der Löwe

Elternbericht
Mutperle für Chemotherapien
Eine weitere Mutperle für Chemotherapien

Die traurigste Geschichte meines Lebens beginnt zunächst freudig mit der Geburt meines einzigen Sohnes Simon am 23. Mai 1988. 13 Monate wird er gestillt; wir vermeiden Impfungen und leisten uns oft kontrolliert oder selbst biologisch angebaute Lebensmittel.

Gewidmet dem liebsten aller meiner Söhne:

Wir wohnen idyllisch im Taunus, haben sehr gutes Wasser und das AKW Mülheim-Kärlich, gut 35km entfernt, geht vor 1988 nur 13 Monate ans Netz. Tschernobyll hat nur wenig Einfluß auf unser Gebiet.

Im Alter von 6 Jahren bekommt Simon dann eine Gehirnhautentzündung. Die Ärzte wissen nicht, ob es die viruelle oder die bakterielle Form ist; die Werte liegen im Grenzbereich zwischen beiden. Im Alter von 11 Jahren werden die schulischen Probleme heftiger, obwohl er von allen als aufgeweckt, intelligent und durchsetzungsstark erlebt wird. Wie viele Jungen in seinem Alter gerät auch er zeitweise in Selbstwertkonflikte.

Simon, Sohn zweier grundverschiedener Menschen, wird als fideler, offener Mensch mit starkem Rechtsempfinden und wahrhaftigen Äußerungen empfunden. Er ist musikalisch, neugierig und technisch begabt, sportlich, spontan, charmant und offenherzig bis gesellig.

Nach einem sehr bescheidenen und wiederholten Schuljahr und einem Verdacht auf ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom), einigen Wochen des Winters mit Ohrenweh, blauen Flecken durch Inline-skaten, dem Bau einer Trapperhütte mit Freunden sowie einer oft wiederkehrenden Entzündung an seinem Finger, gehen wir mit ihm zum Arzt.

Er hatte bisher nie von alleine schlafen wollen und kauert sich nun erschöpft und von Kopfschmerzen geplagt in einen Sessel. Am 10. Januar 2001 stellt unser Hausarzt die Diagnose: Leukämie. Unserem sonst so wilden Racker sackt das Blut in die Beine. Er und Krebs?!

Nichtwahrhabenwollen

Wir stehen stundenlang unter Schock und versuchen es mit Pfeifferschem Drüsenfieber oder der Entzündung am Finger zu erklären.
Dann die Bestätigung durch die Klinik nach der Knochenmarkspunktion: T-ALL (Akute lymphoblastische Leukämie der T-Zellen).
Die Chancen stehen gut, wird uns erklärt; es werden Zahlen genannt, zwischen 70% und 85% auf eine Heilung.
Simon wird allerdings als Hochrisikopatient eingestuft, da er mehr als 25000 Leukozyten hat, älter als 10 Jahre ist und an T-ALL leidet.
Er wird nach der multizentrischen Therapiestudie COALL-06-97 behandelt.
Nach dem ersten Block der Chemotherapie schwindet der Schreck etwas; Simon verträgt sie gut. Er hat Mut, Kraft und arbeitet gut mit. Simon der Löwe.
Er darf nach Hause, bis sich seine Blutwerte erholt haben und er genießt es.
Alle fragen ihn: »Bist du wieder gesund, Simon?« Nach einem schlappen Tag, ist er zwei Wochen wie aufgedreht, fährt Fahrrad und skatet und ißt wie ein Scheunendrescher.
Wir haben alle große Gewißheit, daß er zu den 85% gehört, die es schaffen, weil er stark ist und unerschütterlich in seinem Glauben an Heilung durch die Ärzte. Simon der Bär.

Zorn

Das Ergebnis ist enttäuschend; kaum Rückgang der Blastenzahl. Dann die zweite Chemo, nochmal der gleiche Block. Wieder nach Hause; etwas schlapper, aber für ihn ist es immer noch »voll geil«. Das Ergebnis im März – kaum Reaktion.

Das COALL-Protokoll sieht in solchen Fällen zwei modifizierte HR-1 Chemoblöcke aus dem ALL-BFM-95 Protokoll vor. Nach dem ersten Block – Simon verträgt sie ebenfalls recht gut – nur noch 6% Blasten! Vor Freude ist uns allen zum Heulen zumute. Nach dem nächsten Block wird er in Remission sein…
Doch nach dem nächsten Block die auch für Simon entmutigende Nachricht: 80% Blasten!
Die Chemotherapeuten sind ratlos; die Resistenz, die keine ist, kann nicht erklärt werden. Überhaupt wird uns nun gesagt, daß eigentlich blind geschossen, statistisch experimentiert wird.
Unbedachterweise wird eine fünfte Chemo dazwischengeschoben: »Besser als nichts zu machen«, heißt es.

In der Klinikküche sagt mir ein Stationsarzt später, sie stünden mit dem Rücken zur Wand. Erst heute weiß ich, daß die Angst der Ärzte einen Patienten zu verlieren dadurch deutlich wird, daß sie sich unvorbereiteter und seltener auf Gespräche mit den Eltern und dem Patienten einlassen.
Entzündungen im Körper und längere Klinikaufenthalte statt ausgelassener Heimgänge; immer häufiger Wochenenden bei denen viel vorgelesen wird, Hörspiele gehört oder Videos angeschaut werden.
Dann die Idee aus Hamburg, der Studienzentrale: VP16 und Amsacrin, danach jede Menge Cortison; die letzte Rettung!?

Verhandeln

Man sagt uns, daß wir mit Entzündungen rechnen müssen; meistens an den Schleimhäuten.
Simon verträgt die Chemo wieder fantastisch. Originalton: »Die nehm´ ich jetzt immer.«
Nach einer Woche dann beginnt die Hölle.
Zunächst lösen sich Schleimhäute der Speiseröhre. Er kann kaum noch essen und spuckt ständig, oft auch etwas Blut und Eiter. Nach einer Woche die Besserung – Aufatmen!?
Dann fangen die Bronchien zu schwellen an.
Wir lesen »Momo«, »Die unendliche Geschichte«, »Time to say goodbye« und »Harry Potter und der Feuerkelch« vor. Als Harrys Freund Cedrik im Buch stirbt, ist Simon entsetzt. Er kann es nicht fassen. Immer wieder flüstert er: »Lies weiter!« Er beschäftigt sich mehr denn je mit dem Tod. Die Bücher suchen sich den Leser!?

Depression

Er atmet zwei Wochen wie durch einen Strohhalm; bis zur vollkommenen Erschöpfung – Intensivstation. Nach weiteren Tagen seine letzten gesprochenen Worte: »Wo bleibt Papa?« und »Beeilt euch«. Als ich in die Intensivstation stürze, sehe ich ihm nur noch eine Sekunde in seine hübschen blauen Augen, dann fällt er nach hinten und wird intubiert – Fremdbeatmung.

Nach einer weiteren Woche der minimalen Besserung wird auf seinem linken Lungenflügel ein Pilz festgestellt. »Die Schläuche sind eben gute Infektionswege« wußten ja alle.
Am nächsten Tag fällt der linke Lungenflügel zusammen. Eine Knochenmarkspunktion zeigt, daß das Knochenmark »weggeputzt« ist. Es werden keine Blutkörperchen gebildet; die Körperabwehr ist auf Null. Am Mittwoch abend beschließen wir mit den Ärzten voller Hoffnung die weitere Vorgehensweise. Am nächsten Tag ab zur Blutspende nach Frankfurt. Nach der intravenösen Gabe eines Zellwachstumsmittel mit noch unbekannter Langzeitwirkung, soll uns nach 24 Stunden Blut entnommen werden, aus dem ein Granulozytenkonzentrat für Simon gewonnen wird.
Somit hätte Simon die Chance bis zu seiner Blutbildung »über Wasser« gehalten zu werden. Ich bin noch bis 21 Uhr bei ihm und mache mich dann nach Hause, um für den nächsten Tag fit zu sein. Um 23 Uhr ruft seine Mutter nochmal in der Klinik an; Simon ist stabil, wie immer.

Um 7 Uhr morgens der Anruf, daß wir uns beeilen sollen.
Ein Arzt auf der Intensivstation sagt uns, dass unser Kind stirbt.
Wir gehen wie benommen zu ihm, streicheln seinen kahlen Kopf, seinen aufgedunsenen Leib und beweinen ihn und uns. Eine Schwester erklärt, dass am frühen Morgen sein Kreislauf zusammenbrach und die Nieren versagten.

Zustimmung

Nach zehn Minuten hört sein Herz auf zu schlagen – er wartete auf uns!
Die Beatmung wird entfernt – er nimmt noch zweimal Luft – und atmet ruhig – für immer – aus.

Ich fühle mich seither oft alt und müde. Die Abende und die Wochenenden kommen mir endlos lang und still vor. Es ist, als fielen wir in ein Loch; während seiner Krankheit waren wir fast ununterbrochen bei ihm; unsere starke Tochter zeigte dafür immer Verständnis.

Den großen Trost bekam ich durch eine Erscheinung etwa drei Tage nach Simon´s Tod. Ich hatte das Gefühl, er wehte durch mich hindurch und ich empfand für einige Sekunden ein starkes Gefühl der Liebe, des Glücks und der Zufriedenheit. Dieses Gefühl gibt mir bis heute viel Kraft zu einer gesunden Trauer.
Darüber hinaus haben wir Simon dreizehn wundervolle Jahre kennenlernen dürfen. Das weckt in mir Liebe und Dankbarkeit.
Bücher eines Freundes über Nahtod- und Nachtoderfahrungen, die mir eine Einsicht in die spirituelle Welt verschafften, gehören seitdem zu meiner regelmäßigen Lektüre und ich kann sie nur allen Betroffenen weiter empfehlen. Im Anhang finden sie eine Bücherliste und einige interessante Links zu diesem mir wichtig gewordenen Thema.

Anhang

Buchempfehlung:

Zum Licht
Dr. Melvin Morse und Paul Perry, 1990 Goldmann Verlag

Dem Tod begegnen und Hoffnung finden
Christine Longaker, 1997 Piper Verlag

Trost aus dem Jenseits
Bill und Judy Guggenheim, 1997 Scherz Verlag

Über den Tod und das Leben danach
(und viele andere, bessere Bücher von …)
Elisabeth Kübler-Ross, 1984 Verlag: Die Silberschnur